Hier und jetzt
Im Kyudo, dem japanischen Bogenschießen, ist es unangebracht für den Anfänger, mehr als einen Pfeil in seinem Köcher zu haben. Sonst geschieht es leicht, dass er, wenn er mit dem ersten Pfeil zielt, schon an den nächsten denkt. Man muss voll und ganz auf das, womit man beschäftigt ist, auf das, in dem man steckt, konzentriert sein. Demjenigen, der sich von dem, was vorher geschah oder dem, was später kommt, zerstreuen lässt, fällt es schwer, die Zielscheibe zu treffen.
Das gilt selbstverständlich für alles, was man sich vornimmt. Wer dabei ist, etwas zu lernen, macht auf dem Weg unvermeidlich viele Fehler. Wenn man sich von diesen beunruhigen lässt, hat man es doppelt so schwer, sie hinter sich zu lassen. Eine schlechte Leistung muss vergessen werden, damit sie den Ausübenden nicht entmutigt. Ebenso kann eine gute Leistung sogar für den Routiniertesten zum Hindernis werden, wenn er sich nämlich Sorgen macht, ob es möglich ist, sie zu wiederholen.
Für den optimistischen Anfänger ist es am üblichsten, dass er eifrig Pfeile abschießt, in der Überzeugung, dass der nächste noch besser wird und der danach besser als jener. Er wird also ein strahlender Bogenschütze sein – in der Phantasie. Will er das auch in der Wirklichkeit sein, so ist es am besten, den Köcher zu leeren und zu lernen, sich auf einen Pfeil nach dem anderen zu konzentrieren.
Das ist nicht nur eine pädagogische Finte, sondern ein grundlegendes Prinzip der östlichen Kultur. Im Shintoismus, der alten japanischen Religion, entspricht das Wort nakaima ungefähr dem christlichen Begriff Paradies. Nakaima ist aus zwei Wörtern zusammengesetzt: hier und jetzt. Wer ausschließlich hier und jetzt leben kann, genau da, wo er sich befindet, still halten kann und sich nicht von etwas anderem ablenken lässt, der hat gewiss einen paradiesischen Zustand erreicht.
Im Budo ist das so gut wie identisch mit der Leere. Wenn man das Vergangene, die Zukunft und alle anderen Orte außer dem, an dem man sich befindet, vergessen kann, wird man leer. Alles was geschieht – auch das, was man selbst tut – sind Überraschungen. Deshalb kann man nicht von etwas überrumpelt werden, nichts kann einem zuvorkommen. Man ist augenblicklich in allem.
Bei den Samurais in der Geschichte Japans gab es ein grundlegendes, teilweise aus dem Zen entlehntes, Prinzip, wie man der Gefahr begegnen solle. Sie meinten, man solle sich mit der Attitüde ins Duell begeben, dass man bereits tot sei – da könne man nicht verlieren. Wer hart am Leben festhält, den lähmt seine Angst, dieses zu verlieren, und er wird deshalb geschlagen. Wenn man statt dessen zu sich sagen kann, dass alles schon vorbei ist, dass man schon tot ist, so kann man von nichts abgelenkt werden. Man ist hier und jetzt, völlig voraussetzungslos. Man ist leer, und damit kann man unmöglich überlistet oder überrumpelt werden.
Wenn man in Kendo oder Iaido lernt, mit dem Schwert zu schlagen, oder in Karate mit der zur Faust geballten Hand, ist es am besten zu sich selbst zu sagen: es ist schon vorbei. Da wählt der Körper, das innerste Wesen, den besten Augenblick für den Hieb oder Schlag, und man wird selbst genauso überrascht wie sein Partner. Gegen solche Hiebe und Schläge kann man sich nur mit der selben Form von Leere wehren.
Welche Technik man auch ausführen soll, in welche Situation man auch gelangt – wenn man fühlen kann, dass alles bereits getan, bereits vorbei ist, da kann man nichts aufhalten oder ändern. Solches Aikido ist in seiner Natur so, als würde es gar nicht vom Aikidoka ausgeführt, sondern von etwas anderem, höherem. Wagt man auf dieses Höhere zu vertrauen und seine Handlungen diesem zu überlasen, so bekommt man wahrhaftig ein Aikido, das niemandem und nichts trotzt und hingegen Frieden schafft. Es ist eins mit dem Natürlichen.
Das ist wiederum nicht so leicht auszuführen wie zu beschreiben. Aber es ist den Versuch wert, wie lange es auch dauert, dahin zu gelangen. So lange sind wir jetzt auf der Erde gewandert, nun muss es genug sein mit Siegen, die die Niederlage anderer erfordern, mit einem Fortschritt, der auf dem Rücken von anderen ausgetragen wird, genug mit Menschen, die auf Kosten anderer leben. Es ist eine Lebenszeit wert zu versuchen, eine andere Art und Weise des zwischenmenschlichen Handelns zu finden, eines, das nicht schadet, das nicht den einen belohnt und seinen Tribut vom anderen fordert. Wenn man sich dieses Ideal aneignet, bekommt man langsam ein Aikido, das nicht nur aussieht wie Tanz – es wird Tanz. Ein Tanz von Begeisterung und Lebensfreude, eine spielerische Weile.