Der scharfsinnige Leser hat bereits erkannt, dass der Unterschied zwischen dem harten, weichen und fließenden Training des Aikido nicht so viel mit der Ausführung der Techniken zu tun hat als mit deren Einleitung. Ganz richtig. Gotai beginnt, wenn der Griff des Partners ordentlich geschlossen ist und Jutai, wenn der Angriff eingeleitet wird. Ki Nagare hat keinen Startpunkt.
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Übungen für Wirbelsäule und Zentrum (Dantian),
Spontanes Qigong – freier Fluss der Lebenskraft,
stille Übungen der taoistischen Meditation.
Aikido will in keiner Weise in einer Selbstverteidigungssituation steckenbleiben, in einem Kampf zwischen zwei Willen. Ungeachtet wie groß die eigene Überlegenheit ist, so besteht das Risiko, dass man die Herausforderung annimmt und es am Ende des Kampfes einen bitteren Verlierer gibt, egal wer das ist. Nein, in Aikido will man einen Zustand erreichen, der nicht von Aggression gestört, nicht von Herausforderungen erschüttert werden kann, der nicht vor Feindlichkeiten in Schutz gehen muss. Man trottet nur dahin, als wäre nichts geschehen.
Das ist Ki Nagare (oder Ki no Nagare, wie es auch geschrieben wird, oder Ryutai, fließendes Training), ein ununterbrochener Fluss von Ki (Qi). Der angreifende Partner wird in diesen Fluss hineingezogen und weggeleitet, ohne dass der Verteidiger dafür seinen Kurs geändert oder Halt gemacht haben muss. Die Aikidotechniken werden auf dem Spaziergang ausgeführt, ohne erkennbare Einleitung oder Abschluss. Es ist nur der Angreifer, welcher eine Art Startpunkt ausmachen kann – seinen eigenen Angriff.
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Wenn es viele Angreifer gibt, wird es sowohl natürlich also auch notwendig, Ki Nagare auszuführen, das nicht bei jemandem stehenbleibt und keine vorhersehbare Strategie enthält. Gut durchgeführt sieht es unleugbar unterhaltend aus: Der Aikidoka wandert planlos in einem Haufen von Angreifern herum, die sämtlich ihr Ziel verfehlen und in alle Richtungen fallen, wie Bowlingkegel bei einem Strike. Aber die Prinzipien des Aikido sind deutlich und in dieser Lage nicht so schwer anzuwenden – schwerer ist es faktisch, einer der Angreifer zu sein, der Risiko läuft, von einem der seinen getroffen zu werden und der zudem große Probleme hat, die Augen auf dem erwählten Opfer zu halten.
In Ki Nagare wird dieser natürliche Ki-Fluss und die Positionsveränderung des Körpers in ständigem Taisabaki trainiert. Dadurch dass man nie fest auf einem Punkt bleibt, können die Angreifer sich nicht zu einem ordentlichen Angriff sammeln, dadurch dass man sich in ständigem Irimi und Tenkan bewegt, kann kein einzelner Angreifer mit seinem Angriff Erfolg haben. Man bemerkt auch das Ausgeklügelte der Aikidotechniken – sie sind alle so ausgedacht, dass man sich sogar während ihrer Ausführung in unaufhörlichem Taisabaki bewegt, so dass die umgebenden Angreifer keinen Treffer machen können, während man mit ihrem Kumpel zu tun hat. Das war eine selbstverständliche Eigenschaft der Verteidigungskunst der Samurais, denn diese bereiteten sich für das Schlachtfeld vor, nicht nur für Duelle Mann gegen Mann.
Gisela Döhler, Malmö.
Gisela Döhler, Malmö.
Die gewöhnlichsten Techniken in Ki Nagare sind Würfe, da diese schnell sind und nicht erfordern, dass man in irgendeiner Position verbleibt. Aber auch die Festhaltetechniken funktionieren, wenngleich etwas modifiziert, gegen mehrere Angreifer. Teils kann man sie zu Würfen oder ein schnelles Zu-Boden-Bringen umwandeln, teils kann man mit ihnen den Partner steuern, so dass er im Weg seiner Kumpanen landet, und teils können selbst diese mit einer ununterbrochenen Abfolge von Taisabaki durchgeführt werden. Sämtliche Techniken bekommen jedoch mehr und mehr die Prägung von Fluss, Spiralen und Ellipsen, welche Wirbelwinden gleich die Angreifer zum Fallen bringen, auch oft die, an die man nicht direkt Hand gelegt hat.
Selbstverständlich geht es, Ki Nagare auch zu zweit zu trainieren, indem der Angreifer sich nach jedem Fall beeilt aufzustehen und erneut angreift. Der Verteidiger sollte sich die ganze Zeit in Bewegung befinden, besser auf den Partner zu als von ihm weg, so dass das Tempo gesteigert wird. Das kann eine ziemlich konditionsfordernde Trainingsform sein. Eine gelungene Methode, das Tempo hochzubringen ist Kakari Geiko, da mehrere Angreifer in einer Reihe stehen und einer nach dem anderen nach vorne eilt, so bald der Verteidiger den vorhergehenden zu Fall gebracht hat – oder noch besser kurz bevor er noch dahin gekommen ist. Durch ein solches Training lernt man auch, sich unmittelbar an das unterschiedliche Temperament, die unterschiedliche Größe und Stärke usw. der verschiedenen Angreifer anzupassen.
In einem hohen Tempo von Ki Nagare ist es unmöglich, seine Techniken mit Hilfe des Gehirns zu machen – das ist ein weitaus zu langsamer Befehlsgeber. Die Initiative muss in die Reflexe, in die Intuition und ins Gefühl verlegt werden. Man setzt seinen Fluss in Gang und lässt die Aikidotechniken dann diesen natürlich ausdrücken, diesem folgen, wie es kommt. Man kann das mit der Improvisation eines Musikers vergleichen, bei der das Gehirn weit hinter der Bewegung der Finger auf dem Instrument zurückbleibt.
Ki Nagare ist natürlich die Trainingsmethode, die dem Wesen des Aikido am nächsten liegt. Der Aikidoka soll sich ständig in diesem Fluss befinden, der automatisch zu Techniken führt, wenn jemand ihn angreift – und das unmittelbar, natürlich, so als wäre der ganze Verlauf vorbereitet und einstudiert. In Wirklichkeit ist es unmöglich, ein solches Aikido durch Vorbereitung und Einstudieren zustande zu bringen. Es muss unvorbereitet aus einem wachen und lebenden Zentrum geboren werden. Wenn es funktioniert wie es soll, benötigt man immer weniger physischen Kontakt um die Aikidotechnik durchzuführen, man wird eher zu einem Strom, in dem der Angreifer mitgerissen wird. Weder Grifftechniken noch Wurf erfordern physische Anstrengung oder dass man sich an seinem Partner festsaugt. Es fließt nur. Obwohl das wie eine unzuverlässige Selbstverteidigung wirkt, bevor man versteht, wie es vor sich geht, ist es der Weg zu einem richtig hinreißenden Aikido. Man sollte mit der Zeit seinen Partner mit der gleichen Leichtigkeit hantieren können, wie der Dirigent sein Orchester – vielleicht am Ende aus derselben Entfernung.
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